Hannes (Backliner ZSK)
„Gerade verarbeitet man das gar nicht. Gerade funktioniert man einfach nur.“

TW: Krieg/Vergewaltigung
Bei „Kulturgut“ sollte es von Anfang an nicht nur um die Menschen gehen, die im Vordergrund stehen, sondern auch um Leute, die im Hintergrund alles erst möglich machen. Als ich von Hannes erfuhr, wollte ich ihn unbedingt für ein Interview gewinnen. Hannes ist nicht nur Backliner bei ZSK, sondern er leistet momentan auch Unglaubliches: Gemeinsam mit ein paar Freunden hat er Radical Aid Force ins Leben gerufen. Mit einem stetig wachsenden Netzwerk bringen sie dringend benötigte Hilfsgüter, nicht nur an die ukrainische Grenze, sondern mittlerweile auch direkt an die Frontlinie. Wie genau das alles abläuft, wieso die großen NGOs seiner Meinung nach mehr tun könnten und wie es ihm dabei geht, hat er mir vor dem ZSK-Konzert in Leipzig erzählt, weshalb Gitarrist Ace sich auf dieses Titelbild mit drauf schmuggelte.
(Am Ende des Interviews findet ihr Links, wie ihr supporten könnt.)



R: Moin, du bist Backliner bei ZSK. Ein Begriff, den wohl jeder Musikinteressierte und Konzertgänger schon gehört hat, oft ohne zu wissen, was die eigentlich genau machen. Wie sieht denn dein Alltag auf Tour aus? Was konkret sind deine Aufgaben?

H: Also ich fahre den Bus, aber den teilen wir uns alle. Also es fahren alle, die einen Führerschein haben, was ganz nett ist. Ansonsten: Ausladen, Einladen, wenn irgendetwas kaputt gegangen ist, das wieder reparieren. Außerdem kümmere ich mich um den Bühnenaufbau, um Instrumente oder um Special Effekts, wie Kabuki oder Konfetti und während der Show gucke ich, dass alles glatt läuft, dass z.B. immer genug Getränke da sind und nichts auf der Bühne liegt. Da kann alles Mögliche passieren: Ein Belt Pack fällt raus, ein Stick fällt weg, ein Beckenständer fällt um, whatever. Ich muss da einfach ein Auge darauf haben und gucken, dass alles läuft.

R: Wenn man dann, wie du bei Primitive Life, in einer eigenen Band ist, denkt man sich dann nicht öfters: Vor der Crowd hätte ich jetzt auch Bock zu spielen?

H: (lacht) Ich weiß nicht, ob die Leute von ZSK etwas mit härterem Hardcore-Punk anfangen könnten. Aber klar hätte ich Bock mal wieder so größere Shows zu spielen, aber ob es uns noch gibt, ist aktuell eh ein wenig fraglich. Zwei unserer Jungs wohnen in England und wir haben uns seit Coronabeginn nicht mehr gesehen. Von daher ist das momentan etwas schwierig. Aber wir hatten mit ZSK auch schon Gespräche, ob wir mit denen mal ein paar Shows spielen können.

R: Auf Tour erlebt man sicherlich auch die ein oder andere verrückte Geschichte. Mal so ganz unter uns: Was ist das Verrückteste, was du auf Tour so mitbekommen hast?

H: Mit ZSK war das auf jeden Fall der Abend nach dem Pell-Mell Festival als wir ins Freibad eingebrochen sind.

R: Lustig, die Geschichte habe ich gerade eben tatsächlich schonmal gehört.

H: Ok, das war auf jeden Fall sehr witzig. Auch die Geschichte mit dem Orangensaft?

R: Nein, das nicht…

H: Also wir waren da gerade so auf dem Weg zum Freibad und dann kam da so ein Typ und ist mitten durch uns durch und hat uns alle angerempelt. Alle waren ein bisschen betrunken und ich war der einzige Nüchterne und es war mir dann erstmal egal. Aber dann hat der Typ angefangen sich so richtig aufzuführen und ist aufs übelste sexistisch geworden. Da sind mir dann irgendwann die Sicherungen geplatzt. Ich hatte so eine 1,5 Liter Orangensaftflasche dabei und bin dann angelaufen, in die Luft gesprungen und hab ihm die ins Genick gepfeffert und dann ist er umgefallen und weggelaufen mit „Ich gebe auf! Ich gebe auf!“ Das war schon ein bisschen witzig.
Und mit meiner Band Primitive Life, da könnte ich Bücher vollschreiben. In Südamerika hatten wir zum Beispiel einen Bus mit Fahrer gebucht. Die sind nach dem ersten Tag nachts mitten auf der Autobahn rechts rangefahren, haben Messer gezückt und gesagt „Tschüss!“. Die haben uns einfach rausgeschmissen, wir durften das Zeug behalten, der Bus war bezahlt und sie haben sich einfach verpisst. Das war auch ein bisschen crazy.

R: Das kann ich mir gut vorstellen. Anderes und sehr ernstes Thema: Ich habe gehört, dass du mit dem Bandbus von ZSK aktuell bei jeder Gelegenheit an die ukrainische Grenze, teilweise sogar bis an die Frontlinie, fährst um die Menschen dort zu unterstützen. Wie kam es denn dazu?

H: Wir waren und sind alle politisch sehr aktiv. Wir waren davor schon bei „Refugee Struggle“ mit eingebunden und andere politische Arbeit. Ich war, zum Beispiel, 2020 auch auf Lesbos und habe dort im Camp Moria mitgeholfen, auch als die großen Brände waren. Von daher war uns allen schnell klar, dass wir etwas machen wollen, als der Krieg begonnen hat. Wir wollten nicht einfach nur etwas im Internet posten oder so, sondern wirklich direkte Aktionen starten. Das war schon immer unser Ding, ohne dass das jetzt eingebildet oder anderen Dingen gegenüber abwertend klingen soll.

R: Ich weiß, wie du es meinst. Und wie genau darf man sich das dann vorstellen? Was genau macht ihr dort?

H: Die ersten zwei male war es so, dass wir wirklich nur bis zur Grenze gefahren sind. Dort haben wir aber festgestellt, dass die großen Organisationen, wie das Rote Kreuz, ihr Zeug machen. Es war dort zwar etwas chaotisch, aber im Endeffekt ist dort alles gelandet. Dann haben wir aber mitbekommen, dass die Sachen dort in irgendwelchen Lagerhäusern landen und da keine anderen NGOs oder sonstiges ran dürfen, weil das Zeug eben vom Roten Kreuz ist. Über Kontakte in der Ukraine haben wir aber gehört, dass dort zum Beispiel Krankenhäuser Bedarfslisten haben. Dann haben wir uns einfach direkt mit denen in Kontakt gesetzt und gesagt „Wir besorgen euch das über Spenden oder was auch immer.“ Dadurch haben wir dann angefangen Sachen direkt in die Ukraine zu fahren. Als das Leute an der Grenze mitbekommen haben, sind die alle zu uns gekommen und haben gemeint „Krass, könnt ihr dies und das machen. Hier sind 3000 €.“ Und so haben wir immer mehr Kontakte bekommen. Mittlerweile bringen wir auch Militärequipment, also Schutzausrüstung wie Helme und schutzsichere Westen oder Nachtsichtgeräte. Wir haben da echt 1000 Kontakte. Wir haben einen offiziellen Brief vom Border Control Chef, dass die uns an der Grenze, wenn wir dort ankommen, durchwinken sollen, weil wir krassen Scheiß bringen. Und das machen eben, meiner Meinung nach, die großen NGOs nicht. Die könnten so viel mehr machen.

R: Also die sitzen quasi alle größtenteils dort an der Grenze und ihr seid eine der wenigen, die da wirklich reinfahren und dort hingehen, wo es brennt?

H: Die, die reingehen, sind teilweise einfach nur wirklich linke, freiwillige Zecken-Sprinterbusse, hat man das Gefühl. Das Rote Kreuz und sonstige, die sagen „Wir haben hier so und so viele Million Euro an Spenden bekommen.“, die siehst du dort halt nicht. Das ist irgendwie schon erschreckend. Ich denke einfach mit all dem Geld, dass die bekommen, könnten sie mehr machen. Wir alleine haben jetzt schon über 80 Menschen rausgeholt. Auf der Rückfahrt nehmen wir ja immer Leute mit. Wir haben so viele Medikamente, wie Morphium oder Ketamin und so weiter, also wirklich den krassesten Scheiß, rübergebracht. Ich denke mir halt, das alles könnte einfach besser und koordinierter laufen, weil die eben eigentlich das Geld haben. Bei uns ist das immer so, dass eben alle von uns, alles was wir hatten, ausgegeben hatten, um Sachen starten zu können. Der Geldfluss wird aber immer weniger, weil das Interesse auch weniger wird.

R: Was denkst du denn, woran das liegt, dass die großen Organisationen das eben nicht so wie ihr machen?

H: Ich gehe mal davon aus, dass das typischer „Standard Germany Paper Work Stuff“ ist. Versicherungen sagen zum Beispiel „Nö, geht nicht klar.“ oder sonstiges. Ich denke, dass da viel Bürokratie und so mit im Spiel sind oder sie wollen eben auch nicht. Das Ganze ist ja auch nicht ungefährlich.
Mietbusse bekommt man eben auch nicht, mit denen man in die Ukraine fahren darf. Deswegen haben wir zuerst den ZSK-Bus benutzt. Dann hatten wir einen anderen, der hat aber eine unschöne Begegnung mit einer Panzersperre gemacht und darum haben wir jetzt einen neuen gekauft, halb über Spendengelder und halb selbst finanziert.

R: Und wie oft macht ihr das jetzt aktuell?

H: Als der Krieg los ging, sind wir so ein- bis zweimal die Woche gefahren. Wir haben das zu viert gestartet, sind jetzt aktuell aber nur noch zwei Personen, die aus Berlin heraus agieren. Eine Person ist ständig in der Ukraine. Sie ist auch Journalistin. Deswegen kann die uns aktuell mit den Fahrten selbst nicht so unterstützen. Die andere Person hat gesagt, dass es ihr einfach zu viel wird, vor allem weil wir jetzt Anfragen bekommen haben für die Pille danach, wegen Vergewaltigungen. Das war für die Person ein zu krasser Triggerpunkt, wo sie dann gesagt hat, sie kann das gerade nicht. Da ist aber natürlich niemand böse oder so. Das Alles ist schließlich megabelastend. Deswegen werden wir versuchen einmal die Woche, aber auf jeden Fall alle zwei Wochen, dort hinzufahren. Aber es ist halt einfach echt krass anstrengend. Ich bin seit März eigentlich nur noch auf Achse.

R: Das glaube ich dir sofort. Wie lange dauert eigentlich eine Fahrt dorthin? Das sind doch sicher auch etwa zehn bis zwölf Stunden, oder?

H: Also bis zur Grenze sind es ungefähr so acht Stunden. Bis dorthin ist zum Glück auch noch nie Stau gewesen. Aber an der Grenze ist es dann ein Glücksspiel. Die polnische Border Control wird gerade auch immer nerviger. Keine Ahnung, woran das liegt. Wir standen dann auch schon so zehn Stunden an der polnischen Grenze.

R: Aus der Ukraine raus dann?

H: Auch schon auf dem Weg rein. An der Ukraine zeigen wir dann unseren Wisch, die schauen kurz ins Auto und dann dürfen wir fahren. Aber wir standen schon zwanzig Minuten an der Grenze und eben auch, wie gesagt, etwa zehn Stunden. Das kann man nie so genau sagen.

R: Seid ihr dann immer mehrere Tage dort oder fahrt ihr nur direkt hin, ladet eure Sachen dort ab und nehmt anschließend die Leute mit?

H: Wir haben es ein paar Mal gemacht, dass wir hin sind, eine Nacht dort gepennt haben und am nächsten Tag zurück sind. Aber das ist echt heavy. Deswegen haben wir eigentlich gesagt, den einen Tag hin, am nächsten Tag alle Erledigungen machen und eine befreundete Punkband treffen, kurz zusammen abhängen und quatschen, was die so brauchen und am nächsten Tag vormittags zurück, also zwei Nächte.

R: Und die Leute, die ihr dann mitnehmt. Wie werdet ihr auch die aufmerksam? Ist das dann auch über Kontakte oder nehmt ihr die direkt an der Grenze mit?

H: Wir haben einen Kontakt, der für People of Color Abfahrtsorte organisiert. Das läuft tatsächlich größtenteils über Mundpropaganda ab. Dann heißt es „Morgen um die und die Uhrzeit sind dort Menschen.“ Die können zu den großen Abfahrtbereichen nicht gehen, weil die dort krasse Diskriminierung und Rassismus erfahren. Die werden aus den Bussen wieder rausgeschubst oder sonstiges. Mittlerweile sind aber, glaube ich, nicht mehr so viele PoC-Personen in der Ukraine. Die meisten sind rausgekommen. Aber das war auf jeden Fall krass zu sehen, wenn man da Leute mit mehreren Rippenbrüchen an einem geheimen Treffpunkt mitnimmt, weil sie woanders einfach verprügelt wurden. Ansonsten fahren wir zum Hauptbahnhof. Da sind NGO-Zelte. Die kennen uns schon. Da rufen wir dann am Tag davor an und sagen „Wir kommen morgen“ und dann organisieren die für uns schon Leute.

R: Wenn man dieses ganze sinnlose Elend und Leid quasi hautnah mitbekommt. Wie geht man dann damit um? Wie verarbeitet man das?

H: Gerade gar nicht. Gerade funktioniert man einfach nur, glaube ich. Ich muss aktuell so viel machen. Ich bin 24/7 am Handy, bekomme ständig Listen von Sachen, die ich bestellen und bringen soll. Dadurch habe ich nicht viel Zeit, um mir jetzt zu viele Gedanken zu machen, was ich gerade gesehen und erlebt habe. Ich habe schon gesehen, wie Menschen einfach neben der Straße begraben wurden oder so. Ich kann da jetzt drüber reden und gerade macht das noch nicht viel in mir, aber ich glaube, das kommt, wenn dieser Funktionsbetrieb vom Körper abgeschaltet wird. Aber wenn wir nach jeder Fahrt wieder in Berlin ankommen und die Leute in ihren Unterkünften untergebracht haben, die wir für sie organisiert haben, sitzen wir immer in einer Ecke im Späti und heulen erstmal. Da merkt man dann, dass die Fahrt geschafft ist und es kommt kurz alles raus. Aber so richtig verarbeitet ist es auf gar keinen Fall und das wird auch noch sehr lange dauern, glaube ich.
Eine von uns war bei diesen Massengräbern in Butscha dabei. Das habe ich zum Glück nicht miterlebt, aber ich will nicht wissen, wie… (macht eine Pause) Ich weiß es tatsächlich nicht, ob und wie man so etwas vollständig verarbeiten kann.

R: Zum Schluss noch eine wichtige Frage: Welche Möglichkeiten gibt es euch bei eurem Schaffen zu unterstützen? Was würdest du den Menschen allgemein raten, die auf irgendeine Art und Weise helfen wollen, sich aber vielleicht unsicher sind, was denn jetzt richtig oder falsch ist, beziehungsweise eben auch nicht diese Connections haben, die ihr habt?

H: Ich habe das schonmal bei dem „Und dann kam Punk“-Podcast (VERLINKEN) gesagt: Eine falsche Art der Hilfe gibt es, glaube ich, im Moment nicht. Egal, ob jemand sagt „Ich bringe jetzt Klamotten von mir, die ich nicht brauch zum Hauptbahnhof“ oder jemand anderes gibt mir 5000 Euro, damit ich schusssichere Westen und lebenswichtige Medikamente kaufen kann. Ich würde das nicht werten. Es ist ja letztendlich auch immer eine Frage, inwieweit man überhaupt helfen kann. Uns selbst hilft, auch wenn das blöd klingt und es alle machen, finanzielle Unterstützung am meisten. Wir haben einfach die Kontakte, um, zum Beispiel, Deals an Land zu ziehen wie für 4000 Euro 550-mal die Pille danach zu kriegen. Das ist ein Einkaufspreis von sechs oder sieben Euro. Normalerweise kostet eine Pille ungefähr 30 Euro. Anfangs haben wir gesagt „Hey, wir brauchen die Pille danach.“ und dann haben uns Leute auch die Pille danach gebracht und wir hatten so 30 Packungen zu Hause liegen. Dann haben wir gesagt, dass das nicht wirklich effizient ist. Wenn die uns, statt pro Person jeweils fünf Packungen zu geben, das Geld gegeben hätten, dann hätten wir mit 150 Euro weit mehr kaufen können. Das ist das, was du gerade mit Connections meintest. Damit können wir eben besser arbeiten, als jemand, der eben nicht diese Kontakte hat. Aber auch alleine unsere Arbeit und unsere Aufrufe zu teilen oder uns zu schreiben „Ich finde das geil, was ihr macht.“ ist für uns super viel wert. Einfach nur, dass man merkt, die Leute sehen was wir da machen, wertschätzen das und finden das richtig.
Ich glaube auch, dass wir bei vielen Leuten auf Kritik stoßen, weil wir eben auch Leute, die in den Krieg gegen die russische Invasion ziehen, direkt beliefern mit, wie schon gesagt, Hilfsmitteln wie Schutzwesten, Nachtsichtgeräten, und so weiter. Aber wenn ich von irgendjemand höre „Mehr Waffen gleich mehr Krieg.“, dann hat die Person in meinen Augen nicht verstanden, wie es in der Realität läuft.

R: Das ist leider vollkommen richtig.

H: Keine Waffen an die Ukraine liefern, bedeutet die russische Armee überläuft die ukrainische Armee und mehr Menschen werden sterben und mehr Menschen werden leiden. Es wird damit nichts gewonnen. Im Endeffekt gewinnt, meiner Meinung nach, niemand diesen Krieg. Am Ende sind beide Seiten Verlierer, denn alleine die ganzen psychischen Schäden, die man aktuell noch gar nicht sieht, gibt es definitiv auf beiden Seiten.

R: Richtig. Das Ganze wird wahrscheinlich, auch nach Kriegsende, noch sehr sehr lange dauern, bis das aufgearbeitet wurde. Vielen Dank auf jeden Fall für dieses Interview.

H: Gerne. Vielen Dank für das Interesse.


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