Jürgen Kasek (Stadtrat Leipzig)
„Die Grundidee einer Gesellschaft sollte es eigentlich sein, dass einzig und alleine das Verhalten zählt.“

Jürgen Kasek: Ein Name, der wohl jedem Leipziger irgendwie ein Begriff ist. Hauptberuflich als Rechtsanwalt arbeitend, engagiert er sich nebenbei politisch bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Jahrelang war er Landesvorstandssprecher in Sachsen und sitzt heute im Leipziger Stadtrat. Als Sprecher für Livemusik und Clubkultur hat er einen guten Überblick über die Leipziger Kulturlandschaft, weshalb ich mich mit ihm zum Gespräch und einer kleinen Bestandsaufnahme traf. Natürlich sollte auch sein außerordentliches Engagement im Kampf gegen Rechtsextremismus und Verschwörungstheorien nicht unerwähnt bleiben.  



R: Schön, dass wir das heute endlich mal hinbekommen haben. In der momentanen Lage fühlt es sich zwar irgendwie falsch an, mit dir über solche privilegierten Dinge wie Tanzlustbarkeiten und das Nachtleben zu reden, aber nachdem es jetzt so lange dauerte, bis wir es endlich mal geschafft haben uns zu treffen, möchte ich das dennoch tun. Als ich dir Ende letzten Jahres das erste Mal eine Interview-Anfrage schickte, war die Lage noch eine völlig andere: Covid-19 in Form der 3. Welle inklusive Omikron breitete sich immer schneller aus, alles war geschlossen. Seit Kurzem werden die Regeln nach und nach gelockert. Am Wochenende feierten zahlreiche Clubs Wiedereröffnung. Für dich als Sprecher für Livemusik und Clubkultur sicherlich eine erfreuliche Nachricht, oder?

J.K.: Ich fange vielleicht mal ein Stück weiter vorne an, weil sich natürlich ganz viele fragen „Darf man aktuell überhaupt feiern? Darf man sich das erlauben?“. Ich glaube bei all dem, was um uns herum gerade passiert, braucht jeder Mensch eine gewisse Mental Health Care und muss sich um seinen momentanen Gesundheitszustand kümmern. Wenn ich mich den ganzen Tag nonstop mit diesen Dingen auseinandersetze, dann ist das selten gesund. Eine gute Feier, ein Besuch in einem Club, das Treffen mit Freunden sind für eine gute Gesellschaft ungeheuer wichtig. Deswegen braucht es auch in solchen Zeiten diesen Raum. Ich kann beides miteinander kombinieren. Ich nehme Anteil an dem, was auf dieser Welt passiert, aber die Kraft, die ich brauche, um Anteil zu nehmen und mich zu engagieren, die muss ich mir woanders holen. Wenn ich den ganzen Tag von früh bis spät dran sitze und nur Klimawandel, Krieg, Armut, usw. sehe, dann bin ich irgendwann durch. Von daher ist in den letzten zwei Jahren sehr viel verloren gegangen. Das haben wir immer wieder kritisiert.
Dass es jetzt langsam wieder losgeht und es diese Räume wieder gibt, wo man unkompliziert seine Freunde treffen kann, einfach rausgehen kann und schauen, wo einen die Füße hintragen, das ist schon wichtig. Ich habe es letztes Wochenende leider noch nicht geschafft irgendwo hinzugehen, aber es gibt schon ein paar Clubs und Konzerte auf die ich mich freue.

R: Konzerte vermisse ich auch extrem und freue mich bald wieder auf welchen zu sein. Clubs fehlen mir erstaunlicherweise gar nicht so sehr, aber Konzerte schon. Ich hatte im Oktober das Glück wenigstens mal noch auf einem Konzert gewesen zu sein, aber das wars dann auch.

J.K.: Das ist bei mir immer ein Stück weit erklärungsbedürftig. Ursprünglich komme ich aus der Metalcommunity und war früher Bassist in einer Black Metal Band aus Halle. Das ist eigentlich die Richtung aus der ich komme. Ich höre mir das zu Hause auch gerne noch an und mag das auch nach wie vor und gehe trotzdem am Wochenende gerne in einen Club. Wenn man sich drauf einlassen kann, dann ist das eben nochmal etwas anderes als ein Konzert. Ein Konzert hat einen festgelegten Anfang und ein Ende, was bei einer Clubnacht zwar prinzipiell ähnlich ist, aber in einem komplett anderen Kontext gelagert. Das mag ich schon.

R: Da hast du natürlich recht.

J.K.: Ich stelle mir auch gerade die Frage, ob es tatsächlich weniger Clubs geworden sind, seit du hier wohnst. Du bist vor 10 Jahren hergezogen, richtig?

R: Mittlerweile sogar fast 14.

J.K.:  Inzwischen gibt es da schon einen beachtlichen Unterschied. Damals gab es auf jeden Fall noch viele Freiräume, wie leerstehende Häuser. Der Charme des Vorübergehenden, ein Raum, den man kurzfristig mal besetzen und sich nehmen konnte und einfach irgendwas machen. Diese Räume, die für eine kreative Szene enorm wichtig sind, sind einfach viel weniger geworden. Stattdessen gibt es eben viele Dinge, die am Reisbrett entworfen wurden. Das spricht mich halt null an.

R: Das kann ich sehr gut nachvollziehen.

J.K.: Es geht einfach darum den Moment zu erleben. Du kannst dich verlieben; du kannst dich trennen; du findest Freunde; du streitest dich; du lebst. Du nimmst die Emotionen aus so einer Nacht mit und das geht für mich nur mit einem echten Erlebnis und nicht, wenn du an irgendwas vom Reisbrett Entworfenes reingehst.

R: Dass während der Pandemie ein normaler Betrieb nicht möglich ist und gewisse Regeln eingehalten werden mussten und müssen, ist wohl jedem normal denkenden Menschen klar. Dennoch hatte man irgendwann das Gefühl, dass die Regelungen extrem unübersichtlich sind und teilweise auch ziemlich willkürlich wirkten. Was hätte man deiner Ansicht nach besser oder anders machen können?

J.K.: Schwierig zu beantworten. An der Stelle schlagen tatsächlich zwei Herzen in meiner Brust. Auf der einen Seite kann ich ganz klar sagen, dass Komplettbelange der Kultur ab einem bestimmten Punkt immer nachranging waren und sind. Es ging primär quasi immer darum, das Arbeitsleben zu sichern, wo ich sagen muss, dass eine Gesellschaft, wie unsere nicht mehr funktioniert, wenn es ausschließlich um die Ökonomisierung von allem geht.
Und ja, die Regelungen waren zum Teil widersprüchlich. Selbst wenn du den Willen hattest, dich damit auseinander zu setzen, setzt sich keiner Woche für Woche hin und schaut, ob denn jetzt dies oder das gilt oder nicht. Ich glaube, dadurch sind auch ein Stück weit Misstrauen und Enttäuschung gewachsen.

R: Ab einem Punkt war man definitiv enttäuscht und auch einfach genervt. Die Sachen wurden ja auch nicht wirklich richtig kommuniziert. Es wurde meist immer nur gesagt „Hier sind die neuen Regeln. Haltet euch dran.“

J.K.: Es war auch eine relativ starke Uneinheitlichkeit drin. Natürlich kann man sagen, man macht einen Unterschied je nach Region und wie dort das Infektionsgeschehen gerade ist. Aber als Ergebnis, sind dann die Leipziger einfach nach Sachsen-Anhalt zum Sport oder ins Kino gegangen, wo ich sagen muss, der Virus macht ja nicht an der Landesgrenze Halt. Also entweder will ich eine Kontaktbeschränkung, aber dann muss ich sie eben gegebenenfalls auch im Arbeitsleben durchziehen. Du kannst niemandem erklären, dass 30 Leute in einem Großraumbüro oder in eine Werkhalle gehen, aber genau diese 30 Leute dürfen dann nach Feierabend nicht zusammenstehen und grillen. Da sagen dann die Leute, dass sie es nicht verstehen und ich muss ihnen antworten, dass ich es ihnen auch nicht erklären kann.

R: Du hast als zuständiger Politiker sicherlich einen guten Überblick über die Leipziger Kulturszene: Denkst du es wird irgendwann noch einmal so wie vor Corona oder siehst du eine akute Gefahr des Kultursterbens? Falls ja: Was müsste passieren, dass das nicht geschieht?

J.K.: Im Moment würde ich tatsächlich von der Variante einer akuten Gefahr ausgehen. Das Ganze hat mehrere Aspekte. Bei ganz vielen ist etwas verschwunden, was früher komplett normal war. Einerseits haben viele Konzertstellen und Clubs zum Beispiel momentan Personalprobleme. Man kann den Leuten ja nicht zwei Jahre lang sagen „Macht mal nichts. Irgendwann machen wir schon wieder auf.“ Irgendwann haben sich ganz viele natürlich anders orientiert und sind weg. Dann gibt es in Teilen des Publikums natürlich eine gewisse Unsicherheit, was das alles bedeutet und wie sicher es wirklich ist. Eine Reihe von Konzertveranstaltern haben deswegen schon gesagt, dass der Ticketvorverkauf 2023 extrem schleppend läuft. Früher hätte man gesagt, egal ob ich da noch mit jemandem zusammen bin oder nicht, ich geh da hin. Aber heute überlegt man sich das eben zweimal aufgrund der ungenauen Zukunft, vor allem, wenn man finanziell so aufgestellt ist, dass man sich zwar Konzerte, usw. leisten kann, aber auch nicht ständig. Da aktuell auch noch die Lebenshaltungskosten deutlich steigen, wird sich das definitiv auch noch mit auswirken.
Was passieren müsste, wäre eine andere Selbstverständlichkeit: Eine Gesellschaft, die begreift, dass wir mehr als alles andere Kultur brauchen, dass wir mehr als alles andere Räume des Treffens und des Verarbeitens brauchen, wo du dich jenseits von Arbeit und sonstiger Realität finden kannst und mit anderen Menschen über deine Grenzen hinweg in Kontakt treten kannst. Bei einem Konzert geht es um die Musik. Da steht der Akademiker neben dem Bauarbeiter und neben Studenten und Schülern. In einer Gesellschaft, die nach meinem Eindruck zunehmend auseinandertreibt, braucht man genau diese Räume und Orte, wo die unterschiedlichsten Menschen zusammenkommen, um auch mal Erfahrungen, die man gemacht hat, verarbeiten zu können durch ein Theater, durch ein Konzert, durch einen gemeinsamen Abend.

R: Das hast du sehr schön auf einen Punkt gebracht. Was müsste denn, deiner Meinung nach, aktuell aus politischer Sicht passieren, dass das so wird bzw. bleibt?

J.K.: Wir haben in Leipzig gerade durchaus etwas Wichtiges geschafft. Es gibt ein Clubkataster, welches mittlerweile sogar zum Kulturkataster geworden ist. Da gibt es die Möglichkeit für alle Kulturstätten sich eintragen zu lassen. Jetzt müssen wir nur noch daran arbeiten, dass das für eine Bauplanung dann auch verbindlich wird, damit so etwas wie beim So&So [Anm. d. Red.: ehemaliges Kulturzentrum in Leipzig, welches mittlerweile abgerissen wurde] nicht mehr passiert, weil man dann sagen kann, dass dort ein Club ist bzw. dort Konzerte ausgewiesen sind. Wenn private Investoren kommen, weiß die Stadt zum Teil gar nicht, was da noch alles ist, weil das über das Gewerbeamt gemeldet ist. Wenn das Bauordnungsamt dann eine Genehmigung erteilen möchte, sieht es dann sofort, dass es da einen Ort gibt, den es zu schützen gilt.
Außerdem haben wir lange darüber verhandelt, dass wir eine Lösung für die Distillery [Anm. d. Red.: ältester Techno-Club in den neuen Bundesländern] finden. Ich kann schonmal spoilern und sagen, dass wir eine gefunden haben, aber das werden die selbst, wenn es soweit ist, erklären. Für den Kohlrabizirkus [Anm. d. Red.: Veranstaltungshalle in Leipzig] haben wir ebenfalls eine Lösung gefunden, weil die Stadt das inzwischen gekauft hat und als Kultur- und Kleingewerberäume erhalten möchte.
Eine aufgeklärte Kultur ist für eine Gesellschaft essentiell. Man kann nicht alles im Kulturbereich ökonomisieren. Das vordringliche Ziel kann nicht sein, dass es nur um Rendite geht. Es muss auch unabhängig davon eine Möglichkeit geben. Daher wünsche ich mir, dass es uns noch mehr gelingt, bestimmte Räume freizuhalten, wo sich junge Menschen, die eine Idee haben, ausprobieren können, ohne jedes Mal eine Baugenehmigung stellen zu müssen und dies und das. So dass sie einfach sangen können „Wir haben eine übelst geile Idee! Wir wollen machen! Legen wir los!“. Dafür braucht man aber auch eine Gesellschaft, die dafür tolerant ist. Das sind so die Ansatzpunkte.
Wir haben ebenfalls versucht für die nichtkommerziellen Konzertveranstaltungen freie Flächen zu finden und sind da ein gutes Stück vorangekommen. Bei Flächen in Häusern ist das natürlich nochmal um einiges schwieriger. Denn da heißt es immer nur „Wohnen bringt mehr Geld.“ Da dann eben Lösungen zu finden, dass es Räume gibt, in denen etwas passieren kann ist nicht so einfach. Es braucht ein Grundverständnis, die Toleranz und den Willen dafür, dass so etwas passiert und man muss finanziell dafür so eintreten, dass eben nicht alles am freien Markt überleben muss. Nicht alles, was Rendite erzeugt ist gut und nicht alles, was keine erzeugt, ist deswegen schlecht.

R: Wo du gerade den „freien Markt“ erwähnst: Ich mache mir ja aktuell am meisten Sorgen und Gedanken um die Lokalitäten, die eben das alles nie betrieben haben, um damit reich zu werden, sondern in erster Linie immer nur ein sozialer Anlaufpunkt sein wollten, wo das Bier auch mal 1,50 statt 4€ kostet oder Konzerte durch Vertrauenskasse stattfinden. Das sind doch sicherlich die Räume, die es jetzt am Schwierigsten haben werden, oder?

J.K.: Das ist tatsächlich das Problem. Das war ja quasi vorher schon eine Selbstausbeutung. Zwischendurch gab es zwar die ganzen Hilfen, mit denen man sich irgendwie durchlavieren konnte, aber in dem Moment, wo es wieder aufgeht, das zeigt sich ja jetzt, ist es eben trotzdem nicht mehr so wie davor. Ich glaube viel zu wenige machen sich klar, dass Schüler*innen und Auszubildende ab einem Punkt irgendwann mit Kneipen, Clubs und Konzertstätten das erste Mal in Kontakt kommen und das entwickelt sich und wächst nach. Jetzt hast du aber quasi zwei Jahre in denen gar nichts nachgewachsen ist. Wenn du dich an deine Schulzeit zurückerinnerst, als du gerade 18 geworden bist, konntest du selbst entscheiden in welchen Club, in welche Bar du gehen möchtest. Das gab es aber jetzt seit zwei Jahren nicht. Da sind Leute, die sind aus der Schule raus und hatten noch nie die Gelegenheit irgendwie mal wirklich zu einem Konzert oder in einen Club zu gehen. Diese Erfahrung fehlt komplett.

R: Da bleibt nur zu hoffen, dass jetzt ganz bald die Zeit kommt, um das alles nachzuholen. Wobei ich glaube, gerade bei Konzerten, besteht zum Beispiel die Gefahr, dass man ganz schnell übersättigt wird. Da sind so viele Sachen, die sich jetzt über 2 Jahre angestaut haben, die irgendwie nachgeholt werden wollen. Aber niemand hat wohl wirklich auf Dauer das Geld, die Zeit und die Muse, um jetzt drei bis viermal wöchentlich auf ein Konzert zu gehen…

J.K.: Das ist, glaube ich, auch ein bisschen das Problem. Sehr viele vermuten, dass - wirtschaftlich gesehen - die Insolvenzwelle erst nach Corona tatsächlich so richtig anfängt, weil es dann keine Hilfen mehr gibt und man feststellen muss, es ist nicht mehr so wie vorher, es sind nicht mehr die Umsätze wie vorher zu erzeugen.

R: Kommen wir zu einem anderen Thema. Du bist neben deiner Tätigkeit als Stadtrat und Rechtsanwalt auch noch sehr engagiert im Kampf gegen Rechtsextremismus und Verschwörungsideologien in Leipzig und ganz Sachsen, organisierst z.B. mit „Leipzig nimmt Platz“ zahlreiche Demos. Wann hat dieser Kampf für dich begonnen und wieso ist es deiner Meinung nach so wichtig, sich so klar zu positionieren?

J.K.: Das kann ich dir relativ einfach beantworten. Begonnen hat das gegen Ende der 90er Jahre. Meine erste feste Freundin hat mir damals einen Patch geschenkt: riesengroß, kreisrund, durchgestrichenes Hakenkreuz. Für mich war das nichts Besonderes und kein wirkliches politisches Symbol, sondern eigentlich die Grundlage unserer Gesellschaft. Es war und ist für mich völlig absurd, dass das als ein so starkes politisches Symbol gilt. Diese Gesellschaft ist auf den brennenden Ruinen des Nationalsozialismus aufgebaut worden, mit dem Versprechen, dass so etwas nie wieder passieren darf. Demzufolge ist das durchgestrichene Hakenkreuz doch nur die logische Konsequenz. Diesen Patch habe ich dann getragen und so rutschte ich dann immer mehr und mehr da rein und wurde politischer. Der Grund, wieso man sich so klar positionieren muss, ist total simpel: Ich will in einer Gesellschaft leben, in der es scheißegal ist, wie jemand aussieht, woher er kommt und wen oder was jemand liebt oder auch nicht. Alles, was im Endeffekt zählen sollte, ist wie sich ein Mensch am Ende des Tages verhält. Ich kann doch nichts dafür, wo ich geboren bin. Ich meine, ich habe verdammt viel Glück gehabt, aber was ist denn meine Leistung daran?

R: Vollkommen richtig.

J.K.: Ich habe inzwischen Kinder und möchte nicht, dass diese in einer Gesellschaft aufwachsen müssen, in der sie sich dafür rechtfertigen müssen, weil sie lange oder kurze Haare haben, weil sie einen Kapuzenpullover tragen oder nicht, weil sie vielleicht Springerstiefel tragen oder barfuß laufen. Das ist doch eigentlich alles völlig egal, weil das alles keinerlei Aussagekraft hat. Die Grundidee einer Gesellschaft sollte es eigentlich sein, dass einzig und alleine das Verhalten zählt und nicht, wie du heißt, woher du kommst, welche Sprache du sprichst oder wen oder was auch immer du liebst.
Und wenn ich das alles will, weil es eben leider noch nicht so ist, dann kann ich da nur sagen, was ich immer sage: Es ist unsere Gesellschaft und es liegt in der Hand jedes einzelnen Menschen mitzuentscheiden, in welcher Gesellschaft wir leben. Jeder Mensch hat es mit in der Hand, seinen Anteil zu leisten, in dem Moment, wenn man auf andere Leute trifft, wie man sich verhält. Ich nehme mir das auch immer vor und das klingt dann immer so heroisch, aber an bestimmten Stellen rege ich mich dann eben doch auf, wo ich im Nachgang anders und reflektierter mit hätte umgehen können. Es bleibt ein Lernen.

R: Das ist richtig, das ist das ganze Leben. Aufgrund deines Engagements, siehst du dich auch immer wieder mit extremen Anfeindungen konfrontiert. Woher nimmst du die Kraft diesen wichtigen Kampf immer weiter zu führen? Was treibt dich an?

J.K.: Ich glaube, das ist ein ganzes Stück weit das Gefühl, nicht loslassen zu können. An ganz vielen Stellen ist das sicherlich wahnsinnig anstrengend, aber es gibt eine ganze Reihe Menschen, die verlassen sich quasi darauf und die sagen auch immer wieder „Danke“. Außerdem ist es das Gefühl, eine eigene Selbstwirksamkeit zu erreichen, dass du mit dem, was du machst, andere Menschen begeistern oder berühren kannst. Jeder Mensch sehnt sich doch ein Stück weit danach, mit dem, was er macht, etwas bewirken zu können. Ich bin fest davon überzeugt, dass das auch jeder Mensch kann. Das ist eine sehr starke Antriebskraft. Außerdem spielt mein Persönlichkeitstypus noch eine gewisse Rolle.
Was die Anfeindungen betrifft: Man stumpft da auch mit der Zeit einfach ab. Wenn dann irgendwann der fünfte oder sechste Shitstorm über dich hinweg gerollt ist, dann geht das nicht mehr ganz so an die Substanz. Das entscheidende ist, dass in so einer Situation auch immer noch Menschen sind, die sagen „Ich teile nicht unbedingt, was du gerade gemacht hast, aber das was du generell tust, finde ich gut. Und wenn du meine Hilfe brauchst, werde ich dir helfen.“ Das ist für mich übrigens auch die Grundidee von Toleranz, dass ich eben nicht sage „Ich bin nur bei dir, wenn wir beide auch dieselbe Meinung haben“, sondern, dass ich sage „Auch, wenn ich deine Meinung in dem Moment nicht teile, verstehe ich, was du willst und deswegen bekommst du meine Unterstützung dafür.“

R: Gab es denn schonmal einen Zeitpunkt, an dem du ernsthaft mit dem Gedanken gespielt hast, dich aus diesen ganzen öffentlichen Dingen zurückzuziehen?

J.K.: Dadurch, dass ich auch noch selbstständig bin, gab es schon eine Reihe an Momenten, wo ich dasitze und mir überlege, dass es schöne wäre einen völlig normalen Job zu haben, ohne, dass das abwertend klingen soll. Ich gehe vielleicht morgens um 6 oder 7 aus dem Haus, gehe dann 8 Stunden arbeiten, komme zurück, lese dann vielleicht Zeitung, spiele mit meinen Kindern und alles andere ist mir egal. Auf der anderen Seite denke ich mir, ich habe bei all dem Stress, den ich habe, ein unglaublich aufregendes Leben. Ich komme viel rum, ich kann ein Stück weit selbst entscheiden, wann ich zur Arbeit gehe, weil ich mein eigener Chef bin und es passiert unglaublich viel, was tatsächlich auch Vorteile hat. Manchmal verfluche ich es und sehne mich eigentlich nach etwas anderem, aber ich kann trotzdem nicht loslassen und will es auch gar nicht.

R: Gut so. Was macht ein so viel beschäftigter und engagierter Mensch wie du, um mal ein wenig runterzukommen und zu entspannen?

J.K.: Musik hören, Klettern, … (überlegt) und tatsächlich kann ich auch aus solchen Demo- oder Veranstaltungssituationen teilweise durchaus etwas Befreiendes ziehen. Da weiß ich, ich steige morgens in einen Zug, fahre irgendwo hin und habe eine bestimmte Aufgabe. Alles andere wird in dem Moment nebenrangig und ich bin auf das Ding fokussiert. Dann komm ich abends zurück und weiß, ich bin leer, wo dann nicht mehr so viel geht.
Früher habe ich auch noch in einer Band gespielt, aber das ist vom Zeitaufwand ein bisschen schwierig momentan.

R: Mal angenommen, du hättest für einen Tag die Macht Deutschland dauerhaft nach deinen Wünschen zu verändern. Was würdest du alles tun?

J.K.: Das ist eine verhältnismäßig schwierige Frage. Was ich, wie schon erwähnt, total wichtig finde, ist es Freiräume zu schaffen. Also Räume, wo die unterschiedlichsten Menschen zusammenfinden können und wo eben nicht alles klappen muss, sondern echte Trefforte für die Gesellschaft. Auf einer Metaebene könnte ich jetzt noch sagen, ich würde dafür sorgen, dass alle eine gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe bekommen. Was in der einfachen Übersetzung im Grunde eine Anpassung der Lebensverhältnisse bedeutet oder anders gesagt: Die Armen müssen reicher und die Reichen müssen ärmer werden. Dass, zum Beispiel, Mieten ein Armutsrisiko sind, ist ein Unding. Das sehen wir ja auch in der aktuellen Situation. Wir reden über eine Spritpreisbremse, bei Mieten soll das aber nicht gehen. Natürlich sind ganz viele Menschen darauf angewiesen, irgendwie mit dem Auto zu fahren, aber alle Menschen müssen irgendwie wohnen. Da wird es dann halt unlogisch. Ich denke schon, dass es da viele Ansatzpunkte gibt, die man umsetzen könnte und das wäre tatsächlich auch der Wunsch. Es braucht auch eine Chance Kindern und Jugendlichen eine andere Aufmerksamkeit zu schenken, ihnen mehr Zeit zu widmen und eine bessere Betreuung, wo man ihnen auch die Möglichkeit gibt nicht nur Schule und Sportverein zu haben, sondern echt sagt: „Da ist ein Raum. Macht etwas draus.“


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